Cornelia Muth

Zur Philosophie des Zwischen-Seins

Gestaltpädagogik als Idee eines lebendiges Zwischen

Gestaltpädagogik ist, wie vermutet werden könne, kein eigenständiger pädagogischer Ansatz, sondern Ausdruck einer Existenz-Philosophie im pädagogischen Feld. Mit anderen Worten: Gestaltpädagogik, die sich in Deutschland in den 70er Jahren aus der Gestalttherapie entwickelt hat, bezeichnet keine Pädagogik, sondern eine Lebenshaltung und somit eine menschliche Gestalt, die – wie das Leben – permanent in Bewegung (im Fluss) ist (vgl. Sieper/Petzold 1993). Infolgedessen sind Pädagoginnen und Pädagogen, die sich mit dem Gestaltansatz identifizieren, Menschen, die authentischen Kontakt zu ihren Sinnen und zu ihrer Umwelt haben (wollen). Kontakt bedeutet diesbezüglich „in Berührung sein“ (Perls/Hefferline/Goodman 1992: 9). Sind Menschen in Kontakt mit sich selbst, können sie ihre schöpferische Kraft und ihre zwischenmenschliche Lebendigkeit spüren. Dementsprechend unterstützen gestaltorientierte Pädagoginnen und Pädagogen dialogische Lernprozesse, in denen die jeweiligen Adressatinnen und Adressaten mehr von sich selbst erfahren und ihre eigene Lebensentwicklung bestimmen können
(vgl. Kühn 1991). Jedoch fordert diese Integrationsarbeit mit allen Sinnen verschiedene Wahrnehmungswiderstände heraus (vgl. Wheeler 1993: 123ff.). Sie begleiten ganzheitliche Erfahrungen und das Bewusstsein darüber im Sinne einer „vollständigen Gestalt“ (Perls/Hefferline/Goodman ebd.). Der Begriff „Gestalt“ zeigt den konzeptionellen Hintergrund von Gestalttherapie. Perls, der letztere in den 50er Jahren in den USA begründete, lehnte sich u.a. mit dem „Figur/Hintergrund-Prinzip“ an die deutschen Gestaltpsychologen wie Köhler, Koffka und Wertheimer an (vgl. Wheeler 1993).

Während die mit den Widerständen verbundenen Kontaktunterbrechungen im Mittelpunkt von Gestalttherapien stehen, spiegeln sie den Pädagoginnen und Pädagogen die Wirkungsgrenzen ihrer Beziehungsarbeit wider. Infolgedessen setzen sich diese nicht mit „vergangenen Gestalten“ auseinander, sondern zeigen in der Gegenwart, welche Entfremdungen das Selbst des Menschen in seiner Umwelt erfährt (vgl. Becker 1997). Pädagogisches Ziel ist dabei die Wahrnehmung der Verantwortung für das eigene Handeln jenseits der gesellschaftlichen Regeln, die dem Individuum eher schaden, als dass sie menschliches Wachstum fördern. Wachstum bedeutet für gestaltorientierte Pädagoginnen und Pädagogen, dass Lernen als Gewahrseins- und Kontaktprozess geschieht. Dabei wird „der Mensch in seiner Ganzheit (Verstand – Gefühl – Körper)“ (Scala 1992: 285f.), in seiner „Bezogenheit (Ich-andere-Umwelt)“ (ebd.) und in seiner „Geschichtlichkeit (Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft)“ (ebd.) einbezogen.

Gesellschaftspolitisch steht der Gestaltansatz veränderungsorientierten Konzepten nahe. Es sollen destruktive Seiten von Gesellschaft aufgedeckt und konstruktiv-humane Gruppenformen gefunden werden.

Literatur:

Cornelia Muth, Das Zwischen!?

Cornelia Muth: Das Zwischen!? – Eine dialog-phänomenologische Perspektive, Köln 2015.
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Becker, U. 1997: The Importance of (Recognizing and) Being Recognized. Über Anerkennung/ „Recognition“ im gestaltpädagogischen Englischunterricht oder Wie ich als Lehrerin ein mir bedeutsames Thema gestalte, in: Gestaltpädagogik, S. 25-36; Kühn, B. 1991: Zeit-Geschichte – Lebensgeschichte – Weiber-Geschichte(n): Oral History praktisch, in: Burow, O.-A./Kaufmann, H. (Hrsg.): Gestaltpädagogik in Praxis und Diskussion, Berlin. S. 75-80: Perls, E. S./Hefferline, R. E./Goodman, P. 19922: Gestalttherapie. Grundlagen, Stuttgart; Scala, E.: 1992: Gestaltpädagogik. Warum gibt es eine Gestaltpädagogik?, in: Krisch, R./Ulbing, M. (Hrsg.): Zum Leben finden: Beiträge zur angewandten Gestalttherapie, Köln, S. 281-303; Sieper, J./Petzold, H. 1993: Integrative Agogik – ein kreativer Weg des Lehrens und Lernens, in: dies. (Hrsg.): Integration und Kreation. Modelle und Konzepte der Integrativen Therapie, Agogik und Arbeit mit kreativen Medien, Paderborn, S. 359-370; Wheeler, G. 1993: Kontakt und Widerstand: ein neuer Zugang zur Gestalttherapie, Köln.
Cornelia Muth

– Ganzheitliches Lernen; Band 1: Emotionalität; Pädagogik; Band 2: Ganzheitlichkeit

Wochenschau-Verlag

Aus: Lexikon der politischen Bildung, Band 3, Methoden und Arbeitstechniken. Georg Weißeno (Hg.) Schwalbach/Ts. 2000