Cornelia Muth

Pädagogik zwischen Kunst und Wissenschaft

Jüdische Spiritualität: „an organic, geistige way of life“

von Dr. Cornelia Muth
(Professorin für Erziehungswissenschaft und Sozialethik an der FH Bielefeld)

In einer der vielen Perspektiven, die auf jüdische Spiritualität möglich sind, berufe ich mich hier auf einen modernen Überlieferer des Judentums, auf den Dialogphilosophen Martin Buber (*1878+1965). Als gläubiger Jude geht er davon aus, dass das Judentum eine Einheit aus Volk und Glaube bildet. Aus dieser Einheit heraus entsteht eine spezifische religiöse Wirklichkeit. Sie zeigt sich in Form eines Sprachgeschehens von Anrede und Antwort. So ist das Folgende auch keine Aussage über das „offizielle Judentum“, sondern, wie Robert Welsch die Bewegung, der Martin Buber angehört, beschreibt, über „den ununterbrochenen Strom des unterirdischen Judentums, der Ketzer, Mystiker und Gottsucher, die nichts Fertiges und Erstarrtes übernehmen wollen, sondern besorgt sind, den Geist ins Leben zu bringen“ (Welsch 1993, S. XXIV).

Unermüdlich diskutierte Buber seit Anfang des 20. Jahrhunderts, welche Aufgaben dem Judentum zu kommen. Seine Fragen und Antworten waren von religiösen nicht gelöst; im Gegenteil er geht davon aus, dass Gott in keinem Sonderbezirk und deswegen an diversen Orten nicht, sondern überall wohnt. Infolgedessen ist ein Kennzeichen jüdischer Spiritualität das Gebet bzw. das Gespräch mit Gott. So wird Abrahams leibhaftiges Ringen um den Einen Gott als Beginn des jüdischen Glaubensgespräches gesehen. Der Prozess dieses Ringens zeigt sich in der einzigartigen Lebenspraxis eines jüdisch Gläubigen: Er bzw. sie soll selbst eine Thora, ein Gesetz werden. D. h. der Mensch soll aus der Thora, aus den fünf Büchern Moses, die wiederum als Darstellung gelebten Ringens um Gott verstanden, seine unmittelbare Ethik als Mitgenosse des israelischen Volkes selbst entwickeln. Dabei dienen die geistigen Führer*innen, die Rabbiner*innen als Vorbild eines „organic, geistige way of life“. Geist bedeutet laut Buber auch Dialog. Diesen Dialog gilt es zu vergegenwärtigen und in der dadurch gefundenen geistigen Ethik das eigene Leben zu offenbaren: >Liebe IHN deinen Gott mit all deinem Herzen, mit all deiner Seele, mit all deiner Macht.< Erkunde, was du mit all deiner Seele tun kannst! Was du mit all deiner Seele tun kannst, so daß aus keinem Urgrund deiner Seele, in keinem Augenblick letzter Besinnung deinem Vorhaben ein Widerspruch begegnet – was du mit all deiner Macht tun kannst, so daß all dein Wesen ganz und einig ist in deinem Tun, das ist die Wahrheit. Worin wir ganz und einig werden können, das sollen wir tun. Wenn wir es tun, werden wir zu lieben beginnen. Einen Unbekannten erst. Aber dann werden wir erkennen, wen wir lieben“ (Buber 1935).

Wird einerseits das Beten, was zuweilen dem Üben von Mantras entspricht, in der Synagoge gelernt und an Gott erinnert, ist jedoch andererseits die Verwirklichung von Gottes Wort dem Gespräch mit den Mitmenschen vorgeordnet. Nach Martin Buber kann der Mensch erst Gott begegnen, wenn er bzw. sie seinen/Ihren Nächsten wirklich begegnet ist. Dabei kommt es nicht darauf an, was der Mensch tut, sondern wie er/sie es tut: „Es kommt … nicht darauf an, was getan wird, sondern jede Handlung, die in Weihe, das heißt: in der Intention auf das Göttliche geschieht, ist der Weg zum Herzen der Welt … Nicht die Materie der Handlung, nur ihre Weihung entscheidet. Jede Handlung ist heilig, wenn sie auf das Heil gerichtet ist“ (Buber 2007, S. 249). Hiermit weist Buber auf die jüdisch-chassidische Schöpfungsgeschichte hin. Sie besteht im Glauben an sogenannte heilige Funken, die als zerbrochene Reste der ersten missglückten Welterschaffung in den Dingen und den Menschen wohnen. Diese Funken zu bergen, so der Chassidismus (jüdische mystische Bewegung des 18. Jahrhunderts), wirkt heilend auf den Menschen (vgl. Muth 2012, S. 15f.).

Heilung bedeutet aus der Perspektive jüdischer Spiritualität Erneuerung der Vergangenheit auf die Zukunft bezogen. Deswegen kann in dieser Betrachtungsweise auch vom „jüdischen Prophetismus“ gesprochen werden. Er zeigt sich praktisch in der Zuversicht, dass Gott sich als der zeigen wird, der er ist. Mit anderen Worten: In der Hinwendung zum Gegenwartenden und in der Gegenwärtigkeit des gelebten Augenblicks offenbart sich die Liebe (Gottes), in der der Mensch wohnt (vgl. Buber 1994, S. 22; Horwitz 1978; Muth 2004). Dafür entwirft Gustav Landauer (politischer Schriftsteller, *1870 + 1919) den Begriff vom „Gewordenen-werdenden“: Nur Geworden-werdendes lebt, nur wer in seiner Gegenwart und Wirklichkeit Vergangenheit und Zukunft in eines begreift, nur wer sich selbst, wie er wahrhaft und ganz ist, mitnimmt auf die Reise nach seinem gelobten Land, in dem nur scheint mir das Judentum ein Gut zu sein“ (Landauer 1913 nach Altenhofer 1991, S. 164f.). Mit gelobten Land ist einerseits Palästina gemeint, andererseits der konkrete Raum zwischen Ich und Du als zwischenmenschliche Wirklichkeit. Auf letztere kommt es laut Martin Buber an, auf das wirkliche Leben, dem der Begegnung zwischen Ich und Du: „Beziehung kann bestehen, auch wenn der Mensch, zu dem ich Du sage, in seiner Erfahrung es nicht vernimmt. Denn Du ist mehr, als Es weiß. Du tut mehr, und ihm widerfährt mehr, als Es weiß. Hierher langt kein Trug: hier ist die Wiege des Wirklichen Lebens. … Ich werde am Du: Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ (Buber 1994, S. 16 und S. 18). Erst aus dieser Begegnung kann sich laut Buber, wie eingangs schon gesagt, ein Dialog mit Gott, mit dem ewigen Du entwickeln.

Diese spirituellen Gesprächsweisen meint Buber auch im Buddhismus wahrzunehmen. Für ihn weis Buddha um „das Dusagen zum Menschen“, insbesondere lebte Buddha es im „unmittelbaren Verkehr mit den Schülern“ (Buber 1994, S. 110). Allerdings stellt Buber eine wesentliche Differenz Buddhismus und Judentum heraus: In der jüdischen Spiritualität verwirklicht sich der Geist zwischen den Menschen und zwischen Gott und den Menschen in der konkreten Welt und nicht wie im Buddhismus durch „zurückgebogenen menschlichen Geist“, von dem ausgegangen werde, „er geschehe im Menschen“ (Buber ebd., S. 111). Aus der Sicht Bubers offenbart sich das Ich und Du ebendarum nicht durch die „Aufhebung der Welt“ (ebd.) und „Entledigung von aller ichhaften Bedingtheit“ (ebd., S. 100). So geht es für Buber im Buddhismus darum, die Welt in meiner Seele zu bejahen oder zu verneinen. Aber für den Menschen jüdischen Glaubens geht es um eine „Seelenhaltung zur Welt zu leben, zu welteinwirkendem Leben“. Erst diese Haltung lässt uns Menschen „zu Wirklichem Leben werden“ (ebd., S. 112). Demnach kann Gott von der Welt gerade nicht getrennt werden. Denn: „Gott umfasst das All, und ist es nicht; so aber auch umfaßt Gott mein Selbst, und ist es nicht. Um dieses Unbesprechbaren willen kann ich in meiner Sprache, wie jegliches in seiner, Du sagen; um dieses willen gibt es Ich und Du, gibt es Zwiesprache, gibt es den Geist, dessen Urakt sie ist, gibt es in Ewigkeit das Wort“ (ebd., S. 113).

Abschließend auf einen Satz zusammengefasst liegt die geistige Praxis jüdischer Spiritualität darin, „… in jeder Stunde und in jeder Situation die Antwort zu suchen und selbst auf die göttliche Stimme zu lauschen“ (Buber (nach Welsch) 1993, S. XXVII).

Literatur:

Buber, Martin: Drei Reden über das Judentum, in: Martin Buber Werkausgabe 3, Frühe jüdische Schriften, Gütersloh 2007, S. 217-256.

Buber, Martin: Ich und Du, Gerlingen 1994.

Buber, Martin: Ein Spruch des Maimuni, in: Ders.: Der Jude und sein Judentum, Gerlingen 1993, S. 578-579.

Horwitz, Rivka: Buber’s Way to I and Thou. An Historical Analysis and the First Publication of Martin Buber’s Lectures ‚Religion als Gegenwart‘, Heidelberg 1978.

Jay, Martin: Politics of Translation – Siegfried Kracauer und Walter Benjamin on the Buber-Rosenzweig Bible, Leo Baeck Institute Yearbook 21, 1976, S. 6, nach HaCohen, Ran: Einleitung, in: Martin Buber Werkausgabe 14, Schriften zur Bibelübersetzung, Gütersloh 2012, S. 27.

Landauer, Gustav: Sind das Ketzergedanken?, in: Ders.: Zwang und Befreiung, Köln 1968, S. 200f. nach Altenhofer, Norbert: Martin Buber und Gustav Landauer, in: Licharz, Werner/Schmidt, Heinz (Hg.): Martin Buber (1878-1965), Internationales Symposium zum 20. Todestag, Band 2: Vom Erkennen zum Tun des Gerechten, Frankfurt/M. 1991, S. 150-177.

Muth, Cornelia: Heilung durch Hingabe und Demut: Martin Bubers chassidischer Hintergrund, in: Dies.: Heilende chassidische Geschichten, Wuppertal Taschenbuchausgabe 2012 (2007), S. 15-21.

Muth, Cornelia: Zum Hintergrund von Ich und Du, in: Gestaltkritik 2, 2004,
www.gestalt.de/muth_buber.

Welsch, Robert: Einleitung, in: Buber, Martin: Der Jude und sein Judentum, Gerlingen 1993, S. XI-XL.